21.12.2011

Türchen 21 - Geschichte

Erich Kästner
Interview mit dem Weihnachtsmann
Eine vorweihnachtliche Betrachtung
Teil I

Es hatte schon wieder geklingelt. Das neunte Mal im Verlauf der letzten Stunde! Heute hatten, so schien es, die Liebhaber von Klingelknöpfen Ausgang. Mürrisch trollte ich mich türwärts und öffnete.
Wer, glauben Sie, stand draußen? Sankt Nikolaus persönlich! In seiner bekannten historischen Ausrüstung. "Oh", sagte ich. "Der eilige Nikolaus!" - "Der Heilige, wenn ich bitten darf. Mit h!" Es klang ein wenig pikiert. "Als Junge habe ich Sie immer den eiligen Nikolaus genannt. Ich fand's pausibler," - "Sie waren das?" - "Erinnern Sie sich denn noch daran?" - "Natürlich. Ein kleiner hübscher Bengel waren Sie damals!"
"Klein bin ich immer noch." - "Und nun wohnen Sie also hier" - "Ganz recht." Wir lächelten resigniert und dachten an vergangene Zeiten. "Bleiben Sie noch ein bißchen!", bat ich. "Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir!" Er tat mir, offen gestanden, leid.
Was soll ich Ihnen sagen? Er blieb. Er ließ sich herein. Erst putzte er sich am Türvorleger die Stiefel sauber, dann stellte er den Sack neben die Garderobe, hängte die Rute an einen der Haken, und schließlich trank der Weihnachtsmann mit mir in der Wohnstube Kaffee.
"Zigarre gefällig?" - "Das schlag ich nicht ab." Ich holte die Kiste. Er bediente sich. Ich ihm Feuer. Dann zog er sich mit Hilfe des linken den rechten Stiefel aus und atmete erleichtert auf. "Es ist wegen der Plattfußeinlage.  Sie drückt niederträchtig." - "Sie Ärmster! Bei Ihrem Beruf!" - "Es gibt weniger Arbeit als früher. Das kommt meinen Füßen zuspaß. Die falschen Nikoläuse schießen wie die Pilze aus dem Boden."
"Eines Tages werden die Kinder glauben, daß es Sie, den echten, überhaupt nicht mehr gibt."
-"Auch wahr! Die Kerls schädigen meinen Beruf! Die meisten von denen, die sich einen Pelz anziehen einen Bart umhängen und mich kopieren, haben nicht das mindeste Talent! Es sind Stümper!" - "Weil wir gerade von Ihrem Beruf sprechen", sagte ich, "hätte ich eine Frage an Sie, die mich schon seit meiner Kindheit beschäftigt. Damals traute ich mich nicht. Heute schon eher. Denn ich bin Journalist geworden." - "Macht nichts", meinte er und goß sich Kaffee zu. "Was wollen Sie seit Ihrer Kindheit wissen?" - "Also"; begann ich zögernd, "bei Ihrem Beruf handelt es sich doch eigentlich um eine Art ambulanten Saisongebewerbes, nicht? Im Dezember haben Sie eine Menge Arbeit. Es drängt sich alles auf ein paar Wochen zusammen. Man könnte von einem Stoßgeschäft reden. Und nun..." - "Hm?" - "Und nun wüßte ich brennend gern, was Sie im übrigen Jahr tun!" Der gute alte Nikolaus sah mich einigermaßen verdutzt an. Er machte fast den Eindruck, als habe ihm noch niemand die so naheliegende Frage gestellt. "Wenn Sie sich nicht darüber äußern wollen..." - "Doch, doch", brummte er. "Warum denn nicht?" Er trank einen Schluck Kaffee und paffte einen Rauchring "Der Novemver ist natürlich mit der Materialbeschaffung mehr als ausgefüllt. In manchen Ländern gibt's plötzlich keine Schokolade. Niemand weiß wieso. Oder die Äpfel werden von den Bauern zurückgehalten. Und dann das Theater an den Zollgrenzen. Und die vielen Transportpapiere. Wenn das so weitergeht, muß ich nächstens den Oktober noch dazunehmen. Bis jetzt benutze ich den Oktober eigentlich dazu, mir in stiller Zurückgezogenheit den Bart wachsen zu lassen."
"Sie tragen den Bart nur im Winter?" - "Selbstverständlich. Ich kann doch nicht das ganze Jahr als Weihnachtsmann herumrennen. Dachten Sie, ich behielt auch den Pelz an? Und schleppte 365 Tage den Sack und die Rute durch die Gegend? Na also. - Im Januar mache ich dann die Bilanz. Es ist so schrecklich. Weihnachten wird von Jahrhundert zu Jahrhundert teurer!" - "Versteht sich." - "Dann lese ich die Dezemberpost. Vor allem die Kinderbriefe. Es hält kolossal auf, ist aber nötig. Sonst verliert man den Kontakt mit der Kundschaft." - "Klar." - "Anfang Februar lass ich mir den Bart abnehmen."
In diesem Moment läutete es wieder an der Flurtür. "Entschuldigen Sie mich, bitte?" Er nickte. Draußen vor der Tür stand ein Hausierer mit schreiend bunten Ansichtskarten und erzählte mir eine sehr lange und sehr traurige Geschichte, deren ersten Teil ich mir tapfer und mit zusammengebissenen Ohren anhörte.


Teil 2 kommt morgen. :)

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