05.12.2011

Türchen 5 - Geschichte

Wladimir Kaminer
Der Supermann

Das neue Jahr ist die richtige Zeit, um sich selbst und anderen etwas zu wünschen. Meinem Freund und Nachbarn Georgij wünschte ich Gesundheit... und noch mehr Feingefühl seinen Nachbarn gegenüber, d.h., mich nicht mehr um zwei Uhr nachts anzurufen und in den Hörer zu schreien: "Schaut sofort aus dem Fenster! Es schneit!" Das will doch um die Zeit keiner wissen!
Georgij wünschte mir für das neue Jahr mehr Geselligkeit und noch mehr Hilfsbereitschaft in Bezug auf die Nachbarschaft. Vieles auf der Welt wäre nicht schief gegangen, wenn die Menschen bereit wären, einander zu helfen, sinnierte er. Vieles läuft auf der Welt schief, weil die Menschen gerne einander helfen, ohne vorher zu fragen, konterte ich. Geogij vertrat aber eine andere Meinung, er fühlt sich für alles, was auf der Welt geschieht, verantwortlich und hat sogar die alte Fernsehserie "Superman" auf Kassette.
Kurz vor Weihnachten waren wir zusammen in einen Porzellanlanden in den Schönhauser-Allee-Arkaden gegangen, um dort eine Wodka-Karaffe für seinen Vater zu kaufen. Der Laden war rappelvoll und das Porzellan fast ausverkauft, es gab nur noch mikroskopisch kleine Essigkaraffen für zwölf Euro. Trotzdem reihte ich mich in die Schlange vor der Kasse ein. Mein Freund beobachtete die ganze Zeit eine große rot-blau gestreifte Tasche, die herrenlos im Gang stand. Nach drei Minuten kam er zu dem Schluss, dass sich darin eine Bombe befand.
Unauffällig, um keine Panik zu verursachen, schnappte Georgij sich die Tasche, schrie "Alle raus hier!" und lief an die frische Luft. Die Menschen in der Schlange erstarrten und blieben auf ihren Plätzen. Nur zwei ältere türkische Frauen liefen Geogij hinterher. Sie beschimpften ihn auf Türkisch und wollten anscheinend ihre Bombe zurückhaben.
Mein Freund war aber schneller und schaffte es, die Tasche von der S-Bahn-Brücke runterzuschmeißen. Die Tasche platzte unten auseinander, und hunderte kleine Porzellanteile flogen in alle Himmelsrichtungen. Es war also eine Porzellanbombe.
Die türkischen Frauen schubsten Georgij und drohten ihm mit der Polizei. Sie wollten wahrscheinlich nicht ohne Bombe in ihre Terroristenzelle zurückkehren. Außer den Worten "Weihnachtsgeschenk" und "Scheiße" konnten wir nichts verstehen.
Aber alle Leute schauten misstrauisch in unsere Richtung, sie ahnten nicht, dass wir ihnen gerade das Leben gerettet hatten. Georgij meinte, die echten Helden müssen immer im Schatten bleiben, so wie Superman eben, also hauten wir ab, bevor die Polizei auftauchte. Zu Hause wünschte ich ihm noch für das neue Jahr mehr Zurückhaltung und Toleranz.

Morgen kommt dann was passendes zum Nikolaustag.
Viel Spaß noch beim Schuhe putzen. ♥

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